»Katastrophen gehören zum Leben«. Mit dieser Binse möchte das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) die Bevölkerung dazu anregen, private Notfallvorräte wie Lebensmittel anzulegen. In einer Zeit sich verschärfender Krisen sollte der Katastrophenfall aber kein Privatproblem, sondern eine gesellschaftliche Angelegenheit sein. Und auch gesellschaftlich gilt, was das BBK Privatpersonen als Ratschlag mitgibt: »Wenn ein Notfall erst eingetreten ist, ist es für Vorsorgemaßnahmen meist zu spät.«
Eine der großen Zivilisationen der Menschheitsgeschichte, die Kultur der Inkas in den Anden, betrieb ein Lagersystem, das ähnlichen Überlegungen entsprungen sein muss. In den sogenannten qullqas wurden systematisch Lebensmittel und Werkzeuge eingelagert. So sicherten die Machthaber nicht nur die Versorgung ihres Militärs an den großen Verbindungswegen, sondern hielten eine so große Menge an Vorräten, dass die gesamte Bevölkerung ein ganzes Jahr oder länger Ernteausfälle hätte kompensieren können.
Man stelle sich eine ebenso verantwortlich handelnde politische Entität in der Moderne vor, zum Beispiel einen wohlhabenden Staat. Auch ein solches Gemeinwesen würde wohl Präventionsmaßnahmen ergreifen, um in einem Katastrophen-Szenario nicht unvorbereitet im Chaos zu versinken. Oder ist uns ein vor 600 Jahren zerstörtes Andenkönigreich voraus?
Während der Gasspeicherfüllstand zuletzt monatelang deutsche Politik und Medien beschäftigte, ist die gesellschaftliche (Lebensmittel-)Vorratshaltung in Deutschland seit Jahrzehnten ein Tabu. Größere Lebensmittelbestände dienten allenfalls anderen Zwecken, meist dem Auffangen von Überproduktion. Und diese Bestände wurden aufgelöst, sobald dieser kurzfristige Zweck erfüllt war. Die deutschen »Lebensmittelnotvorräte« (Getreide, Reis, Erbsen und Linsen) sind heute ganz offiziell weder eine gesetzlich geregelte Aufgabe noch dafür konzipiert, die Versorgung der Bevölkerung über einen längeren Zeitraum sicher zu stellen. Sie reichen lediglich, um »kurzfristig Engpässe in der Versorgung der Bevölkerung zu überbrücken«. Die Lebensmittel werden zudem auf Kredit gekauft und in privatwirtschaftlichen Lagerstätten aufbewahrt. Eine politische Steuerung findet nicht statt. Die deutschen Lebensmittelnotvorräte sind ein Armutszeugnis in jeder Hinsicht. Dass es auch anders geht, lehrt uns ein wirtschaftspolitisches Beispiel der Nachkriegszeit in Deutschland.
Die Senatsreserve
Die »Senatsreserve« Westberlins wurde im Jahr 1949 eingerichtet und bestand bis kurz nach dem Mauerfall. Sie sollte das würdige Überleben der Westberliner Bevölkerung für den Fall sichern, dass eine zweite Berlin-Blockade durch die Sowjetunion den Warenzufluss unterbinden würde. Es handelte sich um eine geopolitische Strategie, umgesetzt durch die Westberliner Verwaltung, finanziert durch die Bundesrepublik und unterstützt durch die Alliierten. Die Reserve sicherte das Überleben von zwei Millionen Menschen im Fall einer Katastrophe.