Wer heute durch das Internet streift, sieht Menschen, die sich selbst vermarkten. Die Gesichter von Podcastern, Streamern und Influencern überfluten den digitalen Raum. Sie sind auf Thumbnails, Podcast-Covers und in Videos zu sehen – das Gesicht der Einzelnen ist der Schlüssel zum Erfolg in der Aufmerksamkeitsindustrie. Das war nicht immer so. 2010 sah man auf Instagram Bilder von Landschaften und Essen oder wie es der Comedian Bo Burnham in einem Song auf den Punkt bringt: »This was catalogs, travel blogs, a chat room or two«.
Doch seitdem hat die Welt eine beispiellose Personalisierung des Internets erlebt. »People are the new brands«, so beschreibt der Marketing-Professor Scott Galloway die Entwicklung. Menschen lösen klassische Marken ab. Das hat Auswirkungen auf fast alle Bereiche unserer Gesellschaft. Besonders gravierend: Die Personenökonomie bewirtschaftet die sich rasant verbreitende Einsamkeit in den westlichen Gesellschaften und verstärkt sie gleichzeitig.
Ein Blick allein auf ihre Spitze lässt erahnen, wie gigantisch das Ausmaß dieser neuen Personenökonomie ist. Der größte Podcast der Welt des US-amerikanischen Kampfsport-Comedians Joe Rogan hat auf allen Plattformen zusammen etwa 33,5 Millionen Follower. The Joe Rogan Experience erreicht dreimal so viele Menschen, wie in allen deutschen Großstädten insgesamt wohnen. Rogan interviewt stundenlang sehr berühmte Menschen (häufig auch Rechte), es wird geplaudert, ein bisschen Privatleben, ein bisschen Politik, ein bisschen Nonsens. Man fühlt sich, als wäre man bei einem ungezwungenen Kaffee-Date dabei.
Wie bei Rogan, so kann man auch in tausenden anderen Formaten stundenlang im Digitalen mit Menschen abhängen. Ein neuer Trend bei Twitch sind sogenannte Langzeitstreams, bei denen Zuschauerinnen und Zuschauer jederzeit einschalten und am Leben von Streamern teilhaben können. Die Streamerin Emilycc hält derzeit den Rekord für den längsten durchgehenden Livestream. Sie ist seit über drei Jahren ununterbrochen live, filmt sich beim Essen, Schlafen, und vor allem dabei, wie sie Games spielt. Ihr Chat ist immer dabei und kommentiert.
Beziehungen zu Influencern ersetzen echte Verbindungen
Die Follower von Joe Rogan und Emilycc haben eine parasoziale Beziehung zu ihnen aufgebaut. Das heißt, sie entwickeln eine einseitige, emotionale Bindung zu ihren Stars. Im Falle Emilycc scherzt ihr »Chat« mit ihr, er freut sich, wenn sie in einem Spiel gewinnt, spendet ihr ab und zu auch Geld. Emily scheint eine Freundin zu sein, doch diese Beziehung beruht nicht auf Gegenseitigkeit. Wer sich schon einmal gefragt hat, warum Millionen Menschen sich stundenlang – teils absolut inhaltsleere – Podcasts, Youtube- und Twitchstreams anschauen, der findet hier die Antwort: Sie erfüllen ein zutiefst menschliches Bedürfnis nach einer Beziehung zu anderen Menschen.
Und dieses Bedürfnis wächst. Laut einer repräsentativen Umfrage der Bertelsmann-Stiftung fühlen sich in Deutschland fast die Hälfte der 16- bis 30-Jährigen einsam. In der gesamten Bevölkerung ist es nach einer Studie der Deutsche Depressionshilfe knapp ein Viertel. Die Weltgesundheitsorganisation hat die Einsamkeit im Jahr 2023 zu einem globalen Gesundheitsproblem erklärt, das amerikanische Gesundheitsministerium spricht sogar von einer nationalen Epidemie. Ob es sich bei der weltweiten Einsamkeitswelle wirklich um eine Epidemie handelt, ist jedoch umstritten. Was allerdings klar ist: Einsamkeit macht krank. Einsame Menschen sind anfälliger für Depressionen und Angsterkrankungen, Herzinfarkte, Schlaganfälle, Krebs, Demenz. In einer Metastudie konnten amerikanische Wissenschaftler zeigen, dass Menschen mit funktionierenden sozialen Interaktionen seltener an bestimmten Krankheiten leiden.