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Piketty: Europa braucht Investitionen statt Austerität

Statt Sparpolitik braucht Europa einen neuen Investitionsschub. Nur so kann eine schleichende Krise vermieden werden.

4 Minuten Lesedauer
Collage: Surplus, Material: IMAGO / El Mundo, Frank Bienewald

Angesichts der Anfeindungen aus den USA muss Europa dringend sein Selbstvertrauen zurückgewinnen und seinen Bürgern und Bürgerinnen sowie dem Rest der Welt ein alternatives Entwicklungsmodell anbieten. Um das zu erreichen, muss zunächst die konstant negative Selbstdarstellung überwunden werden, die allzu oft die öffentliche Debatte auf unserem Kontinent beherrscht. Nach der in vielen Führungskreisen vorherrschenden Überzeugung lebt Europa über seine Verhältnisse und muss den Gürtel enger schnallen. Die neueste Version dieser Doktrin besagt, dass die Sozialausgaben weiter gekürzt werden sollten, um sich finanziell auf die einzige Priorität zu konzentrieren, die zählt: der Wettlauf mit Trump und Putin bei den Militärausgaben.

Das Problem ist: Diese Diagnose ist in jeglicher Hinsicht falsch. Ökonomisch gesehen sind die europäischen Staaten durchaus in der Lage, mehrere Ziele gleichzeitig zu verfolgen, wenn dies als sinnvoll erachtet wird. Europa verzeichnet seit Jahren hohe Zahlungsbilanzüberschüsse, während die Vereinigten Staaten hingegen ein enormes Defizit aufweisen. Mit anderen Worten: Die USA geben innerhalb ihres eigenen Staatsgebiets mehr aus, als sie erwirtschaften, während Europa genau das Gegenteil tut und seine Ersparnisse im Rest der Welt (insbesondere in den USA) anhäuft. 

In den vergangenen fünfzehn Jahren lag der durchschnittliche jährliche Überschuss bei zwei Prozent des europäischen Bruttoinlandsprodukts (BIP). Das hat es seit über einem Jahrhundert nicht mehr gegeben. Der Trend lässt sich in Südeuropa ebenso beobachten wie in Deutschland oder Nordeuropa. In manchen Ländern liegt der Überschuss gar bei mehr als fünf Prozent des BIP. Deutschlands Nachbar Frankreich liegt im Mittelfeld, mit einer nahezu ausgeglichenen Zahlungsbilanz (aktuell ein kleines Defizit von weniger als einem Prozent des BIP). Im Gegensatz dazu haben die USA seit 2010 durchschnittliche Defizite von jeweils etwa vier Prozent des BIP akkumuliert. 

Es ist also so, dass Europa über solidere Wirtschafts- und Finanzgrundlagen verfügt als die USA. Tatsächlich sind die europäischen Volkswirtschaften so stabil, dass das eigentliche Problem schon seit längerem darin besteht, dass nicht genug ausgegeben wird. Statt Sparpolitik braucht Europa vor allem einen neuen Investitionsschub, wenn es eine schleichende Krise vermeiden will. Dies wurde unter anderem im Draghi-Bericht treffend diagnostiziert.

Ein europäisches Vermögensregister

Allerdings muss dies auf eine eigene, europäische Art und Weise getan werden; indem Europa das Wohlergehen der Menschen und eine nachhaltige Entwicklung in den Vordergrund stellt und sich auf kollektive Infrastruktur (in den Bereichen Bildung, Gesundheit, Verkehr, Energie, Klima) konzentriert. Europa hat die USA in Gesundheitsfragen längst überholt; die Diskrepanz bei der Lebenserwartung vergrößert sich immer weiter zugunsten der Europäer. [Im Jahr 2022 lag die durchschnittliche Lebenserwartung in der EU bei 80,6 Jahren, verglichen mit 77,4 Jahren in den USA.] Und das, obwohl etwas mehr als zehn Prozent des BIP für das europäische Gesundheitswesen ausgegeben werden, während es in den USA etwa 18 Prozent sind. Falls es tatsächlich noch eines weiteren Beweises bedurft hatte, ist dies ein Beleg für die Ineffizienz des Privatsektors und die von ihm verursachten Mehrkosten – ganz gleich, welche andere Meinung Elon Musk und seine Leute dazu haben mögen.

Europa muss seine Fachkräfte im Gesundheitswesen weiterhin unterstützen, damit sie in diesem Sinne weiterarbeiten können. Ebenso hat Europa definitiv die finanziellen Mittel, um die USA auch in den Bereichen Verkehr, Klima, (Aus-) Bildung und Produktivität zu übertreffen – vorausgesetzt, die dafür erforderlichen öffentlichen Investitionen werden getätigt.

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