Jayati Ghosh ist Entwicklungsökonomin und Professorin für Wirtschaftswissenschaften an der University of Massachusetts Amherst, USA. Zu ihren Hauptforschungsgebieten gehören internationale Wirtschaft und Globalisierung sowie der Globale Süden. Im Interview erklärt sie, warum der Globale Norden auf Kosten der ärmeren Länder wirtschaftet und wie sich dadurch die globale Ungleichheit verschärft.
Frau Ghosh, Sie haben einmal gesagt, dass die G7 Länder in ihrer Wirtschaftspolitik den Rest der Welt außen vor lassen – ist das immer noch so?
Es ist sogar noch schlimmer. Die entwickelten Volkswirtschaften gelten an den internationalen Kapitalmärkten als risikoarm, und sie haben die Länder mit niedrigen und mittleren Einkommen in diese von ihnen dominierten Märkte gedrängt. In der Fiskal- und Geldpolitik achten reiche Staaten nur auf ihre eigenen Bedürfnisse und nehmen keine Rücksicht auf die – oft verheerenden – Auswirkungen auf den Rest der Welt.
Sie kontrollieren die großen multilateralen Finanzinstitutionen, die mit zweierlei Maß messen, wenn es um entwickelte Volkswirtschaften und alle anderen geht. Das können wir sehr gut an Empfehlungen zu antizyklischen Maßnahmen sehen. Reichen Ländern rät der Internationale Währungsfonds (IWF), in einer Rezession die Staatsausgaben zu erhöhen, zum Beispiel nach der Weltfinanzkrise und während der Covid-19-Pandemie. Länder mit niedrigem Einkommen und hohen Schulden sollen hingegen prozyklische Maßnahmen ergreifen und auch während einer Rezession auf Austerität und Ausgabenkürzungen setzen, in der Hoffnung, dass so das »Vertrauen der Investoren« wiederhergestellt wird.
Gibt es ein aktuelles Beispiel dafür?
Ein Beispiel dafür sind Restrukturierungen von Staatsschulden, etwa das vom IWF vermittelte Schuldenabkommen zwischen Sri Lanka und privaten Gläubigerinnen und Gläubigern. Dieses Abkommen beruht auf einer sehr mangelhaften Schuldentragfähigkeitsanalyse, die signifikante Ausgabenkürzungen und allzu optimistische Wachstumsprognosen vorsieht. Darin findet sich auch ein neues Instrument, sogenannte »Macro-Linked Bonds«. Wenn das BIP schneller wächst, als es die Zielvorgabe vorsieht, muss der Staat daraus resultierende Einnahmen an die Gläubigerinnen und Gläubiger abführen. Der Schuldenschnitt (oder »Haircut«) verringert sich entsprechend. Entwickelt sich die Wirtschaft allerdings schlechter als erwartet, lässt man Sri Lanka allein.