Neoliberale scheuen unbequeme Wahrheiten. Eine davon ist: Japan hat Rekord-Staatsschulden und trotzdem niedrige Zinsen und niedrige Inflation. Weil die Welt nicht ist, wie die Neoliberalen sie modellieren, erfinden sie Mythen, die die Wahrheit und das eigene Modellversagen verkraftbar machen. Zum Beispiel, dass Japan ein Sonderfall sei, weil es das Privileg habe, sich im Inland bei der eigenen Bevölkerung zu verschulden. Nur weil die alternde Bevölkerung ihr Erspartes brav dem Staat abtrete, sei ein so großer Schuldenberg ohne steigende Zinsen und Inflation möglich.
Dieser Mythos hält sich seit fast zwanzig Jahren. Schon 2004 betrug die Schuldenquote in Japan 170 Prozent, die Zentralbank hatte den Leitzins auf null gesenkt und mit großen Anleihekäufen versucht, die Deflation zu bekämpfen. 2010 übertrat die Schuldenquote die 200-Prozent-Marke und liegt heute bei 252 Prozent. Seit zwanzig Jahren wird davor gewarnt, dass der Schuldenberg eine Zeitbombe sei, die sich irgendwann in explodierenden Zinsen entlade. Der japanische Ökonom Takatoschi Ito von der Columbia University in New York prophezeite 2013 in seinem Paper Defying Gravity, dass die Zeitbombe im Jahr 2022 platzt und zu einem drastischen Zinsanstieg führt.
Auch Bundesfinanzminister Christian Lindner sprach 2021 sinngemäß von einer Zeitbombe: Japan sei Lindner zufolge dem »Dauerrisiko von steigenden Zinsen ausgesetzt, das sich realisieren muss, sobald Zentralbank und Anleger nicht mehr bereitwillig Anleihen aufkaufen.« Für die junge Generation sei das ein »untragbares Risiko.«
Realitätscheck: Der Leitzins liegt heute nach zwei Mini-Zinsanhebungen bei 0,25 Prozent, fünfjährige Anleihen notieren bei 0,5 Prozent, 10-jährige Anleihen bei 0,9 Prozent und 30-jährige Anleihen bei 2,1 Prozent. Und die Inflationsrate liegt nach zwei Dekaden an der Deflationsschwelle bei drei Prozent – das allerdings wegen des Ukraine-Krieges, nicht wegen einer überhitzten Wirtschaft. Ganz offensichtlich ist die Zeitbombe noch nicht geplatzt.
Drakonische Metapher, schlechte Ökonomik
Das liegt daran, dass hinter der drakonischen Zeitbomben-Metapher eine schlechte Ökonomik steckt. Erstens: Japans Zentralbank kann den Ankauf der Staatsanleihen sehr wohl ewig durchhalten und sogar noch ausweiten, denn sie ist die Schöpferin des Yen. Ihr können die Mittel zum Kauf von Anleihen also niemals ausgehen. Sie könnte sogar alle Anleihen ankaufen, wenn sie wollte.
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