Das Jahr 2024 wird als ein Jahr der politischen Unzufriedenheit in die Geschichtsbücher eingehen: Sämtliche amtierende Regierungen in der industrialisierten Welt, die zur Wahl standen, wurden abgewählt. Ein wesentlicher Grund dafür ist die globale Inflation, die mit Störungen der internationalen Lieferketten während der Coronapandemie begann und infolge des russischen Angriffskriegs in der Ukraine mit den Energiepreisen in die Höhe schnellte. Obwohl die Inflationsrate nachgelassen hat, bleiben gegenüber 2020 ein deutlich höheres Preisniveau und entsprechend der jeweiligen Lohnentwicklung mehr oder weniger spürbare Kaufkraftverluste. Zudem funktionieren Preise wie soziale Normen, deren Veränderungen bei den Konsumentinnen Unsicherheit auslösen und das Gerechtigkeitsempfinden verletzen können. Eine Nachwahlbefragung des Senders CNN bei der US-Präsidentschaftswahl zeigte, dass 77 Prozent der Wählerinnen, die »keine Not« infolge der Inflation spürten, Kamala Harris wählten, während 74 Prozent derjenigen, die »schwere Not« erlitten, Donald Trump die Stimme gaben.
Die politischen Folgen der Inflation sind also enorm und dürften in Deutschland, das eine stärkere Inflation als die USA erlebt hat, ein wichtiger Faktor bei der Wahlentscheidung werden. Aber welchen messbaren Effekt hat die Inflation bisher auf Wahlentscheidungen gehabt? Ein neues Arbeitspapier des Instituts für Weltwirtschaft (IfW) in Kiel von dessen Präsidenten, Moritz Schularick, sowie von Jonathan Federle und Cathrin Mohr, analysiert diesen Zusammenhang für 365 nationale Wahlen in 18 industrialisierten Ländern seit dem Zweiten Weltkrieg. Genauer gesagt untersuchen die Forscher, wie sich Abweichungen zwischen erwarteter und tatsächlich realisierter Inflation und Wachstum auf die relativen Stimmenanteile von »populistischen« und »extremistischen« Parteien auf beiden Seiten des politischen Spektrums auswirken. Dieses Vorgehen soll den »Überraschungseffekt« abbilden, der aus der Abweichung zwischen Erwartung und Realität resultiert. Dabei stammen die Daten aus vorherigen Studien des Wirtschaftshistorikers Schularick sowie den historischen Inflationsvorhersagen der OECD.
Inflation stärkt die Ränder
Die Ergebnisse zeigen wenig überraschend, dass Wählerinnen auf unerwartete Inflation mit der Wahl von »populistischen« und »extremistischen« Parteien reagieren, während sie bei überraschendem Wirtschaftswachstum verstärkt der Mitte die Treue halten. Konkret überträgt sich eine Erhöhung der unerwarteten Inflation um zehn Prozentpunkte auf eine Ausweitung des Stimmenanteils systemkritischer Parteien um durchschnittlich 15 Prozent oder 1,7 Prozentpunkte. Steigt zum Beispiel die Inflation von erwartet 2 Prozent auf überraschend 12 Prozent, würde sich der Stimmenanteil radikaler Parteien von eingangs 11 Prozent um 15 Prozent oder 1,7 Prozentpunkte auf 12,7 Prozent erhöhen. Laut den Forschenden sind damit die politischen Auswirkungen einer überraschend starken Inflation mit denen großer Finanzkrisen vergleichbar.
Um genauer zu verstehen, wieso Inflation zu relativen Stimmverlusten der politischen Mitte führt, nehmen die Autorinnen die Reallöhne als zusätzliche Kontrollvariable in die Analyse auf. Es zeigt sich, dass eine überraschende Inflation ohne Reallohnverlust keinen messbaren Effekt auf das Wahlverhalten hat. Bei einer Inflation mit Reallohnverlust hingegen verlassen Bürgerinnen und Bürger verstärkt die politische Mitte und beteiligen sich an Streiks und Demonstrationen (die Abwanderung zu den Nichtwählern wird nicht beachtet). In diesem Fall ist der geschätzte Effekt mit 2,8 Prozentpunkten deutlich stärker. Das suggeriert, dass Wählerinnen ihre Wahlentscheidung vor allem über den Geldbeutel treffen. An dieser Stelle gerät die Studie jedoch an ihre Grenzen. Die Forscherinnen arbeiten nämlich mit Durchschnittswerten für die gesamte Bevölkerung. Dabei trifft die Inflation die Menschen je nach Branche, Einkommen und Warenkorb sehr unterschiedlich, also müsste für genauere Aussagen über die politischen Effekte der Inflation die Verteilung und der Konsum berücksichtigt werden. Zusätzlich verteilt die Inflation zwischen Gläubigern und Schuldnern um, indem mit der Geldentwertung die reale Schuldenlast sinkt, was aber unbeleuchtet bleibt.
Welche Inflation darf es sein?
Das Alleinstellungsmerkmal dieser Studie, die Verwendung des Konzepts der »Inflationserwartungen«, ist auch ihr Schwachpunkt. Entsprechend der herrschenden Theorie scheinen die Forscher von einem Modell rationaler Erwartungen auszugehen, also dass Wählerinnen konsistente und präzise Erwartungswerte für zukünftige Inflation bilden und insbesondere auf Abweichungen von diesen reagieren. Diese Annahme unterstellt einen einheitlichen Ausblick auf die Zukunft und versperrt somit den Blick auf konkurrierende Inflationsnarrative. Je nach Gesinnung verbreiten politische Akteure Erzählungen über die Inflation mit teils sehr unterschiedlichen Akzentsetzungen. Glaubt man den Libertären, dann ist jede Inflation auf eine Ausweitung der Geldmenge zurückzuführen, während Linkskeynesianer betonen würden, wie Preise von Kosten und Marktmacht bestimmt werden. Die unterschiedliche Wahrnehmung der Inflationsursachen und somit möglichen Folgen führt zu sehr unterschiedlichen Forderungen an die Politik. Ein Schwachpunkt ist daher, dass die Forscherinnen und Forscher nicht zwischen den Inflationsnarrativen der Mitte und der politischen Ränder unterscheiden. Unter welchen Bedingungen Wählerinnen den einen oder anderen Narrativen mehr Glauben schenken, muss stärker Gegenstand der Forschung werden.
Diesen Einwänden zum Trotz sticht eine Erkenntnis heraus: Obwohl westliche Regierungen über Jahrzehnte bereitwillig jede Beschränkung der unternehmerischen Freiheit in der Preispolitik aufgegeben haben, da es sich um »ineffiziente« und »verzerrende« Eingriffe in »den Markt« handeln würde, werden sie von den Wählerinnen für Inflation verantwortlich gemacht und entsprechend an der Wahlurne abgestraft. Umgekehrt werden Wachstumsgewinne eher dem eigenen Können zugeschrieben als der Wirtschaftspolitik. Das Kapital einfach walten zu lassen, führt in Krisensituationen wie dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine zu ruinösen Preissprüngen. Wer hier angesichts multipler globaler Krisen glaubhaft und gerecht zu gestalten vermag, kann Extremismus schwächen und die Demokratie stärken. Die dafür erforderlichen Instrumente reichen jedoch weit über die traditionelle Leitzinspolitik der Zentralbanken hinaus. Die Ökonomin und Surplus-Herausgeberin Isabella Weber fordert deshalb einen »wirtschaftspolitischen Katastrophenschutz« mit gezielten Preiskontrollen und Pufferlagern für essenzielle Güter. Für ihre Stabilisierungspolitik spricht nicht zuletzt der Befund der Forschenden, dass »Unruhen sogar reduziert werden können, wenn die Öffentlichkeit erfolgreiche Bemühungen zur Abmilderung der Reallohnverluste inflationärer Überraschungen anerkennt.«